112 Seiten, BUCH&media, München 2010 

Paperback, Ebook 

 

 

 

Inhalt 

An einem lauen Sommerabend findet im Park einer deutschen Großstadt eine weltweit erwartete Uraufführung unter freiem Himmel statt. Das multimediale Gesamtkunstwerk stammt von einem Großkomponisten, dem magische Kräfte zugesprochen werden. Er selbst leitet die Aufführung von einem großen Mischpult aus, das auf einem grünen Hügel im Park installiert ist. Umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen sind getroffen. Denn eine dadaistische Terrorgruppe hatte mit einem Anschlag gedroht, um gegen die „monopolistische Vormachtstellung” des Großkomponisten zu protestieren, wie sie im Internet kundtat.

Die Uraufführung verläuft ohne Störungen. Doch endet sie mit einem Eklat. Aus unersichtlicher Ursache setzt sich ein Jaguar, der trotz Verbots auf der einzigen Straße der Grünanlage parkt, ohne Fahrer und ohne Motorstart in Bewegung. Ein Mann läuft hinter dem Nobelauto her und hechtet auf das Heck. Der Wagen mit dem externen Passagier durchquert den Park und verschwindet auf der anderen Seite im abendlichen Dunst.

Der Jaguar ist weg. Aber der Hechtspringer wird schlafend in einem Blumenbeet gefunden. Er ist des Autodiebstahls verdächtig. Der Mann heißt Anton Schriller, ist ein Biedermann mit keinerlei Besonderheit und ein geschiedener, musikbegeisterter Frührentner, der seit Langem als Single lebt. Niemand weiß, dass er manchmal gewisse Etablissements aufsucht. Dort hat er sich beim Besuch einer geheimnisvollen Chinesin einen Hirnriss zugezogen - als Folge eines Superorgasmus. Seitdem fällt er gelegentlich in entrückte Zustände mit Gedächtnisverlust. Einen derartigen Aussetzer hatte er, als er auf den anrollenden Jaguar hechtete.

Seine spektakuläre Mitwirkung an dem multimedialen Gesamtkunstwerk macht ihn zum Star. Presse, Fernsehen, Musikmanager und auch der Kulturdezernent wollen von ihm wissen, wie es zur Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Großkomponisten gekommen ist, wie der Jaguar abfahren konnte, wie er für den Hechtsprung trainiert hat und ob er wegen seiner hohen Kompetenz in Sachen Multimedialität an Podiumsdiskussionen teilnehmen und als künstlerischer Berater für entsprechende Festivals zur Verfügung stehen kann.

Aber Anton Schriller weist alle zurück: keine Interviews, keine Talkrunden, keine Beraterverträge. Denn um nichts in der Welt will er Fremden gestehen, dass seine Tat mit der geheimnisvollen Chinesin zusammenhängt. Nur zwei alten Freunden, an deren Wertschätzung ihm viel liegt und denen er bisher noch nie imponieren konnte, erzählt er die Wahrheit. Sie sind beeindruckt. Ihr Staunen lindert seinen Minderwertigkeitskomplex. Ihn überkommt ein nie gekannter Gefühlsüberschwang, denn der Hechtsprung, zu dem ihn sein sexbedingter Hirnriss befähigte, scheint ihm den ersehnten Eintritt in die Musikgeschichte zu verschaffen. Hoch gestimmt sucht er die Chinesin auf. Sie begrüßt ihn mit einem „Lächeln, das ewigen Frühling verspricht.”  

 

Hintergrund

Der Autor macht sich über verschrobene Experimente der Musikavantgarde und die Selbstmystifizierung eines ihrer Protagonisten lustig. Er verspottet den superintellektuellen, öffentlich-rechtlichen Kulturredakteur, der diesen Protagonisten für das größte Genie hält:„Er ist der einzige Tonsetzer, der die Stille flüstern lassen kann.” Fernsehjournalisten, die den „Helden” der Uraufführung als Missetäter hinstellen, nur weil er kein Interview geben will, werden verhohnepiepelt. Der Kritikerpapst der maßgeblichen Lokalzeitung wird wegen seines verquasten Schreibstils und seiner überzogenen Supereloge auf das neue Werk vorgeführt.


Natürlich wird auch der Filz in Kultur und Politik auf die Schippe genommen. Der Veranstalter der Uraufführung, ein opportunistischer Manager, macht sich Musikjournalisten gewogen, indem er ihnen bei seinen Veranstaltungen gut bezahlte Aufträge zukommen lässt; der Chef der Sicherheitsfirma, die er für die Uraufführung engagiert, ist der Bruder seiner Frau. Der frühere Sportdezernent musste sein Ressort abgeben, weil es beim Neubau des Fußballstadions zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, die ihm denVorwurf der Vetternwirtschaft eintrugen. Dank des kommunalen Klüngels wird er umgehend Kulturdezernent, obwohl er davon keine Ahnung hat und die gesamte Kulturszene gegen seine Ernennung vehement protestiert. DieUraufführung interessiert ihn nur wenig, mehr dagegen der Hechtsprung des „Helden”, von dem er wissen will, welcher Trainer ihn zu dieser sportlichen Leistung ausbildete.

 

 

   

Rezensionen
 

  

Das Orchester 06/2010, Seite 64, Schott, Mainz 

Während Anton Schriller im Stadtpark der von der ganzen Stadt herbeigefieberten Uraufführung eines berühmten Großkomponisten lauscht, setzt sich auf geheimnisvolle Weise direkt neben ihm der verbotenerweise dort parkende Jaguar des Sponsors inBewegung – ohne Fahrer und bei ausgeschaltetem Motor! Aufgrund eines Hirnschadens hat Anton Schriller in Momenten äußerster Erregung ab und zu Bewusstseinsaussetzer; so auch diesmal: Mit einem Sprung hechtet er auf das Heck des Wagens und verschwindet mit ihm in der Abenddämmerung. Man findet ihn später schlafend und ohne Erinnerung in einem Blumenbeet...
Dies ist die absurde Ausgangssituation für Rudolf Heinemanns kritisch-komische Abrechnung mit der Musik- und Medienwelt. Publikum und Medien bejubeln die Autofahrt und Anton Schrillers Hechtsprung als gelungene Performance-Einlage. Die Polizei hat Schriller als Autodieb in Verdacht. Der Großkomponist, der durch verschiedene Hinweise des Autors deutliche Züge von Karlheinz Stockhausen trägt, distanziert sich empört von dieser billigen Störung seines Konzerts. Der Veranstalter, der für die Sicherheit der Uraufführung verantwortlich war und nicht zugeben darf, dass hier Unvorhergesehenes passiert ist, zeigt sich beeindruckt von diesem Event. Die Stadtoberen gratulieren dem Großkomponisten zu diesem grandiosen Einfall, weil sie sich den Zuschlag für die bevorstehenden Feierlichkeiten seines Geburtstags sichern wollen.
Rudolf Heinemann, unter anderem von 1969 bis 1981 Generalsekretär der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und bis 2003 als Leiter verschiedener Musikredaktionen beim WDR tätig, zeigt auf unterhaltsame Weise, dass er weiß, wie es im Musikbusiness zugeht. Jeder bekommt hier sein Fett ab: karrieregeile Kulturpolitiker, sensationslüsterne Medienvertreter, eingebildete Komponisten, saturierte Orchestermusiker inklusive ihrer Gewerkschaftsvertreter (!) – und nicht zuletzt ein so genanntes Bildungsbürgertum, das jede Scharlatanerie zum Kunstereignis hochjubelt.
Satire? – Ja, gerne mehr davon, wenn es so gut gemacht ist wie hier!

Rüdiger Behschnitt  



http://www.wdr3.de/open-studio-neue-musik/aktuell.html07.03.2010 23:05-24:00

Moderation Björn Gottstein

Zum Schauplatz einer Geschichte wird die neue Musik auch in der unlängst erschienenen "satirischen Erzählung "Die Uraufführung" von Rudolf Heinemann. Heinemann hat sich zeitlebens mit neuer Musik befasst. Er war beim WDR fünfundzwanzig Jahre lang Leiter verschiedener Musikredaktionen im Rundfunk und im Fernsehen. Er hat über die Rezeption serieller Musik geschrieben und bekam vom Deutschen Komponistenverband die "Medaille für Verdienste um die Deutsche Musik". Jetzt, Heinemann ist 72 Jahre alt, hat er die Geschichte einesMusikliebhabers geschrieben, der ungewollt zum Teil eines multimedialen Spektakels wird, der Uraufführung eines nicht namentlich genannten"Großkomponisten", hinter dem sich aber niemand anders als Karlheinz Stockhausen verbirgt.

Auch Heinemann setzt sich mit der deutschen Kulturlandschaft auseinander. Sein kurzes Bändchen ist der frivolen Literatur zuzurechnen, einer Gattung, die man beinahe schon für ausgestorben hielt. Er beschreibt in seinem Roman unterschiedliche Hörertypen, die sich je unterschiedlich zur neuen Musik verhalten. Zu den Positionen, die Heinemann ausbreitet, gehört auch die eines korrupten und durchaus dümmlichen Politikers, der vom Sport- ins Kulturdezernat strafversetzt wurde, der mit neuer Musik nichts anfangen kann und über den Großkomponisten schimpft.

Zitat

"Meine Frau war mal in einem seiner Konzerte. In der Pause ist sie davongelaufen, so schrecklich war dieses esoterische Zeug. Das Geld sollte man lieber in Krankenhäuser oder Schwimmhallen stecken", meinte der erfahrene Politiker und frisch inthronisierte Kulturdezernent. "Ich lese, dass die neue Musik nur eine Minipublikum hat. Warum müssen wir das subventionieren? Es kann doch nicht richtig sein, dass alle für etwas bezahlen, was nur verschwindend wenige Leute haben wollen. Warum schreitet der Rechnungshof nicht ein? Warum kümmern sich dieVerbraucherverbände oder der Bund der Steuerzahler nicht um diesen Missstand? In unseren Haushaltsdebatten höre ich jedes Mal, wie hoch der einzelne Platz in unserem Opernhaus subventioniert werden muss. Da  werde ich stinksauer. Wieso zahlt der Opernbesucher nicht den Preis, den sein Platz wirklich kostet? In einem Popkonzert oder im Kino muss ich ja auch den vollen Preis bezahlen! Überhaupt scheint der überwiegende Teil unseres Kulturbetriebs von den karitativen Zuwendungen der Allgemeinheit zu leben. Das ist doch Parasitismus. Wenn ich dann noch sehe, wie die Beschenkten die Schenkenden angiften und verunglimpfen, packt mich der kalte Zorn." "Sehr verehrter Herr Kulturdezernent", sagte die Musikreferentin ernst und sorgenvoll, "ihreÄußerungen sind, mit Verlaub, selbstmörderisch. Die gesamte abendländische Kultur existierte und existiert bis heute nur dank der Unterstützung durch Kirche, Regierende und andere Mäzene. Ohne sie kein Michelangelo, kein Shakespeare und kein Johann Sebastian Bach. Wenn ihre Überlegungen in die Öffentlichkeit gelangen, wird man Sie – je nach Sichtweise – als barbarischen Kommunisten oder Nazi, der nur massenattraktive Kultur gelten lässt, politisch so fertig machen, dass Sie nicht nur Ihren Job verlieren, sondern eine Gehalts- und Pensionskürzung befürchten müssen, weil ihre Arbeitgeber disziplinarische Maßnahmen ergreifen muss."

Moderation

Der Protagonist dieser Erzählung, Anton Schriller, ein Buchhalter, liebt eigentlich nur die klassischen Meister. Der Uraufführung wohnt er nur bei, weil er sich das gesellschaftliche Ereignis nicht entgehen lassen möchte.

Zitat

„Anton Schriller interessierte sich nicht für neue oder gar avantgardistische Musik. Es mochte ja stimmen, dass sie, wie Philip du Mont behauptete, die unausweichlicheFolge einer unabweisbaren historischen Entwicklung darstellte. Aber Entwicklung hin und Historie her: Diese Musik berührte ihn nicht, sie vermittelte ihm keine Gefühle, sie schien keine Melodien zu haben. Er wusste sich einig mit Else Pompe. Einmal war sie wegen einer gesellschaftlichen Verpflichtung in ein Sinfoniekonzert geraten. Auf dem Programm stand auch ein kakofonisches Avantgardestück; sie bezeichnete es als 'Gequietsche'.”

Moderation

Auch die Uraufführung erlebt er als Enttäuschung. Einem Verehrer des Großkomponisten legt er seine Vorbehalte dar.

Zitat

"Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass ich Ihre hohe Meinung von dem neuen Werk nicht teile. Ich finde es viel zu lang und amorph. Gesuchte Klänge reihen sich aneinander. Unausgesetzt scheint der Komponist Neues auftischen zu wollen – Neues um jeden Preis. Bach und Mozart und andere Große der Musikgeschichte waren keine Neutöner. Diese Suche nach demUnerhörten und Noch-nie-Gehörten, eine Suche, die der Komponist im Programmheft als Hauptmotiv seines Schaffens ausgibt, ist doch imGrunde psychopathisch und führt zu einem maßlosen Subjektivismus und Eklektizismus. Als Spezialist verbeißt er sich in entlegene Probleme die nur einigen wenigen anderen Spezialisten etwas bedeuten." Hastig und ereifert fuhr Anton Schriller fort: "Außerdem konnte ich nicht die Andeutung einer Form erkennen. Jemand hat gesat, dass eine schlechte Form vom schlechten Inhalt herrührt. War es Hegel, der das gesagt hat? Auch der multimediale Rummel mit Filmen, Lichtorgel, Tänzern, Akrobaten konnte mich nicht davon überzeugen, dass hier der Weg in die Zukunft der Musik gewiesen wird. Eher hatte ich das Gefühl, dass Publikumsanbiederung und Unterhaltung im großen Stil stattfanden – nachdem amerikanischen Motto 'Have fun'. Dazu passten dann auch die im Park zwischen Sträuchern und Blumenbeeten herumstreunenden Musiker. Könnten Sie sich vorstellen, dass die Musiker, die eine Beethovensinfonie aufführen, in der Gegend herumlaufen?" "Seit Beethoven hat sich einiges geändert", sagte Philip du Mont etwas spöttisch. "Das wird Ihnen nicht entgangen sein. Sie enttäuschen mich, das muss ich schon sagen. Ich hätte nicht gedacht, dass so ein aufgeschlossener Musikfreund wie Sie einem neuen, großartigen Werk so hilflos gegenübersteht. Sie müssen sich einmal freimachen vom Ballast der Tradition und Ihren Geist fürdas Heute öffnen. Dann werden Sie spüren, dass der große Komponist wie kein anderer mit seinem Werk in die Zukunft weist. Ein Künstler, der wahrhaft kreativ ist und wirklich Neues schafft, blickt nicht ständig  in die Vergangenheit. Ihm muss Beethoven letztlich schnuppe sein."

Moderation

Dieser Philip du Mont, ein Rundfunkredakteur, ist die durchtriebenste Figur der heinemannschen Erzählung. Er brüstet sich mit seinem Wissen,vergeht sich aber eigentlich an der Musik. In seiner grenzenlosen Eitelkeit schreibt er ein Essay mit der These, dass das neue Werk des Großkomponisten endlich die von Hegel in seiner Ästhetik an die Musik gestellten Forderungen erfüllt. Dabei hat er offenbar weder Hegel gelesen, noch hat er auch nur einen Ton des noch uraufzuführenden Werks gehört. Heinemann weiß, wovon er redet. Er war schließlich selbst lange Rundfunkredakteur. Und jeder, der professionell über Musik schreibt, kann sich da an die eigene Nase fassen und sich fragen, wie lauter und ehrlich er seiner Arbeit nachgeht.

Heinemanns Erzählung hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Anders als Krüger, der die neue Musik nicht grundsätzlich infrage stellt, gewährt er ihr keinen rechten Raum. Die Apologetik des schwadronierenden Redakteurs ist unglaubwürdig, der Politiker heuchelt, der Komponist ist verlogen, der Hörer überfordert. Für einen Autor, der sich ein Leben lang mit neuer Musik befasst hat, ist das ein trauriges Fazit.

Eine Vokabel, die Heinemann seinem Protagonisten in den Mund legt, ist besonders bedenklich. Es ist das Wort "psychopathisch". Seit jeher muss sich die neue Musik den Vorwurf gefallen lassen, sie sei krank, anormal, pathologisch. Im Umkehrschluss wäre die Musik von Beethoven oder, je nach Perspektive, der Rolling Stones, gesund und normal. 




Glarean Magazin (http://glareanverlag.wordpress.com/)
3. August 2010

Hechtsprung in die Musikgeschichte

Die Reihe der Fachpublikationen, die Rudolf Heinemann vorzuweisen hat, ist beachtlich. Der studierte Musiker und Soziologe, promovierte Musikwissenschaftler und Redakteur (und, und…) ist bereits mehrfach für seine «Verdienste um die Deutsche Musik» ausgezeichnet worden. Jetzt hat er seinen vielen Berufen und Berufungen eine weitere angefügt und sich als veritabler Schriftsteller geoutet – mit der herrlich satirischen Erzählung «Die Uraufführung».
Seinem Metier, der Musik,ist er auch hier treu geblieben. Seine Insider-Kenntnisse des Musik-und Kulturbetriebes sind ihm dabei sehr zustatten gekommen. Und so ist ihm eine wunderbare Persiflage auf die manchmal recht eigenartigen Umtriebe, kuriosen Erscheinungen und fatalen Auswirkungen gelungen –verpackt in die spannende Geschichte um Anton Schriller und seinen außergewöhnlichen Eintritt in die Musikgeschichte.
Dieser Anton Schriller, geschieden, ist gelegentlicher Besucher in einem Etablissement, in dem ihm eine wunderschöne und geheimnisvolle Chinesin zu Diensten ist. Bei ihr findet er von Mal zu Mal die höchste Erfüllung seiner sexuellen Wünsche. Am Ende zieht er sich bei einem Superorgasmus einen Hinriss zu. Der wiederum führt zu entrückten Zuständen bis hin zum Gedächtnisverlust.


Während Schriller also sein Lebenso oder so vor sich hinlebt, seine Chinesin besucht, und sich musikalischen Genüssen hingibt, bereitet sich der Ort, in dem er lebt, auf ein kulturelles Ereignis der Sonderklasse vor: Die Uraufführung eines multimedialen Gesamtkunstwerks eines Großkomponisten, der Kontakt selbst mit Außerirdischen haben soll, steht bevor. Schon im Vorfeld wird darüber mehr oder minder klug diskutiert. Der aufmerksame Leser zeigt sich nicht nur höchlichst amüsiert, sondern vielfältig erinnert an reales Geschehen in Redaktionsstuben und kulturpolitischen Gremien.

Und dann das Ereignis! «…während der Uraufführung schlendert AntonSchriller … wie die meisten Besucher im Stadtpark herum…». Über dem Park liegt ein riesiges Tonfresko, das das Publikum teils amüsiert, teils fasziniert oder langweilt. Plötzlich setzt sich ein geparkter Jaguar ohne Motorstart in Bewegung. In diesem Augenblick bekommtSchriller seine «Zustände». Er hechtet auf den Jaguar, der nun quer durch die Uraufführung rollt und im Abenddunst verschwindet.Verschwunden ist auch Schriller, bis er schlafend in einem Blumenbeet gefunden wird. Er kann sich an nichts mehr erinnern. Wie also das Geschehen aber der Polizei und überhaupt erklären?
Oder war dieser Hechtsprung, der Schriller in die Musikgeschichte katapultiert hat,Teil der Inszenierung des Großkomponisten? Für die öffentliche und veröffentlichte Meinung Grund zu tiefschürfenden Auseinandersetzungen.Schriller aber ist das letztlich egal. «Sein Hechtsprung gehörte nun dazu. Sein Name war mit diesem Werk verbunden, ja, er würde bei demWerk für immer mitgedacht werden. Das ist der Ruhm, dachte Anton Schriller.» Die Chinesin allerdings meidet er künftig.

Rudolf Heinemann hat mit «Die Uraufführung» eine amüsante Persiflage auf den Musik- und Kuturbetrieb geschrieben - eine sehr intelligente Erzählung  voller Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Blendende Unterhaltung! Alle bekommen in dieser brillanten Erzählung ihr Fett weg:die Medien und die selbstherrlichen Kritiker, die Kulturpolitiker, der Komponist dieses multimedialen Events, dem es nicht mehr allein um die Musik, sondern mehr um das Aufsehen geht. Und das Publikum, dem es häufig einfach nur darum geht, bei einem solchen Event dabei gewesen zusein. Das Dèja-vu-Erlebnis des Lesers wird individuell verschieden sein– ist aber in jedem Fall gegeben.

Für diese Geschichte findet der Autor den richtigen Ton. Rudolf Heinemann hat ein wunderbares,kleines Buch geschrieben, ein – um in der Sprache der Musik zu bleiben– Scherzo: voller Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Blendende, intelligente Unterhaltung!
G. Nawe 




klassik.com
Rezension von Benjamin Scholten (19.08.2010)

Ein rollendes Fahrzeug

Anton Schriller gelingt in Rudolf Heinemanns satirischer Erzählung ‚DieUraufführung´ das, was sich viele Menschen wünschen: Er wird der Star in einer zeitgenössischen Uraufführung und damit zugleich ein Teil der Musikgeschichte. Nach der Lektüre stellt sich die Frage, wie vielSatire und wie viel Wahrheit in dieser kurzen Geschichte enthalten ist. Auf seinem Lebensweg begegnen Schriller nur wenige Personen, doch diese tragen alle zum Erfolg des Frührentners bei. Zunächst gibt es seine geschiedene Frau, die in einer Frauengruppe des Lehrerkollegiums einen befriedigenden Ausgleich zum tristen Eheleben gefunden hat. Außerdem noch die ehemalige Kollegin Elsa Pompe, die auf Klatsch und Tratsch aus ist und zu gerne mehr aus Schrillers Leben wissen würde. Als letztes schließlich noch der Radiomoderator Philip du Mont, mit dem er über klassische Musik philosophieren möchte. Schriller verfolgt bis zu seinem Auftritt das Gefühl, mit diesen Menschen nicht auf einer Ebenezu stehen, sondern in jeder Beziehung eine Stufe niedriger, was seinem Selbstwertgefühl nicht sonderlich hilft.

Bis zur ominösen Uraufführung weiß jedoch keiner von ihnen, dass Schriller ein Doppelleben führt, denn das ausschlaggebende Ereignis findet vor der eigentlichen Aufführung statt. Im ‚Haus der Blumen‘, Schrillers Beschreibung eines kleinen Bordells in der Stadt, trifft dieser sich nach seiner Scheidung und auf Anraten seines Automechanikers mit einer chinesischen Prostituierten. Ihrer sexuellen Energie kann sich Schriller nicht mehr entziehen, was eines Tages zu einem gigantischen Höhepunkt führt. Die Folge sind entrückte Zustände und Gedächtnisverluste. In einen solchen Zustand verfällt Schriller auch während der Uraufführung, was weitreichende Folgen nach sich zieht. Die Aufführung findet im Stadtpark statt und ist für jeden zugänglich. Ein zeitgenössischer Komponist präsentiert ein neues Werk, das von niemandem außer ihm selbst verstanden wird und im Grunde nur die Kassen der Stadt leert. Dabei gibt es einen Hauptsponsor, der sein Fahrzeugauf dem Gelände trotz des Verbotes abstellen durfte. Während die Musik erklingt und gleichzeitig Akrobaten agieren, Videos auf Leinwänden abgespielt werden, Musiker durch den Park spazieren und Lichtshows gezeigt werden, setzt sich der Wagen ohne Fahrer in Bewegung. Schriller erlebt in diesem Moment einen seiner Aussetzer, springt auf den Wagen und wird zum Teil der Aufführung.

Wahrheit oder Fiktion?

Rudolf Heinemann verbindet mit dieser Handlung das eigenartige System der kulturellen Ereignisse einer kleinen Stadt, wie sie wohl häufig in Deutschland anzutreffen ist. Der Kulturbeauftragte interessiert sich eigentlich für Sportwettkämpfe, musste jedoch wegen Problemen auf einen anderen Posten versetzt werden. Familiäre und freundschaftlicheVerbindungen helfen ihm, sich gegen die Bedenken der kulturellen Einrichtungen und geeignetere Kandidaten durchzusetzen. (Ist diese Praxis heute in der Realität nicht auch zu finden?)  Der Komponist ist von sich und seinem Werk dermaßen überzeugt, dass er die Realität vergisst und die Mitmenschen nicht mehr versteht. Die Musikwelt streitet sich schon in Voraus über die Bedeutung seiner Kompositionen und den großen Schritt in der Musikgeschichte. Während nach der Uraufführung allerdings alle über das Auto und Schriller sprechen, fühlt der Komponist sich verletzt. Da weder er noch Schriller in der Öffentlichkeit einen Kommentar abgeben, bleibt es bis zum Ende unklar, ob es geplant oder Zufall war. Überschattet wird die Aufführung imVorfeld von einem geplanten Anschlag einer extremistischen Gruppe, deren Anführer ein ehemaliger Anhänger des Komponisten ist. Das hohe Polizei- und Sicherheitsaufgebot schreckt sie jedoch ab, sodass die Aktion abgeblasen wird.

Interessant ist die Tatsache, dass nach der Aufführung keiner die Schuld des Unglücks übernehmen möchte, was natürlich auch wieder mit finanziellen Aspekten im Zusammenhang steht. Der Kulturbeauftragte sieht darin jedoch ebenso seine Chance – durch die Verbindung zum Sport – wie ansässige junge Journalisten. Heinemann gliedert das Buch nicht nur in gewöhnliche Kapitel. Immer wieder gibt es den Kulturticker, der die wichtigsten Ereignisse und geplanten Aktionen in einer Zusammenfassung wiedergibt und den Stil eines Newsletters impliziert. Das Internet wird zudem zur wichtigsten Plattform erkoren, da sich viele Beteiligten nur darin zu denEreignissen äußern.

Für Schrillers Selbstwertgefühl war derUnfall ein großes Geschenk. Bei der Vernehmung glaubt ihm der Polizist kein Wort, seine Frau versteht ihn nicht mehr, da er sonst so introvertiert gewesen war – ihr erzählt er die Wahrheit nicht –, Elsa Pompe ist von seinen Geständnissen fasziniert und geschockt und Philip du Mont bewundert ihn plötzlich. – Alles in allem ein gelungenes Buch, das die Realität des heutigen Musikbusiness‘ pointiert und zuweilen durchaus überspitzt darstellt, auf die Schippe nimmt und auf den schwachen Stellenwert der Musik in der (Kultur-)Politik aufmerksammacht. Zugleich wird Bedeutung und Manipulierbarkeit der bzw. durch dieMedien beschrieben, die schon im Voraus ein Werk sowie seine Rezeption bestimmten können. Anton Schriller könnte jeder Normalbürger sein, auch wenn dermaßen viele Zufälle eher unwahrscheinlich sind.

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